R.-J. Lischke: Biographisches Lexikon zur Geschichte der Demographie

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Titel
Biographisches Lexikon zur Geschichte der Demographie. Personen des bevölkerungswissenschaftlichen Denkens im deutschsprachigen Raum vom 16. bis zum 20. Jahrhundert


Autor(en)
Lischke, Ralph-Jürgen
Erschienen
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Engberding, Institut für Soziologie, TU Berlin

Ralph-Jürgen Lischke legt mit dem „Biographischen Lexikon zur Geschichte der Demographie“ ein wichtiges und empfehlenswertes Nachschlagewerk vor. Es ist das erste dieser Art in deutscher Sprache, in dem zahlreiche Informationen zu prominenten Persönlichkeiten der Bevölkerungswissenschaft, der amtlichen und akademischen Statistik sowie der Demographie enthalten sind. Damit leistet das „Lexikon“ einen profitablen Beitrag zum Wissen über etwa 450 Personen aus der Geschichte der Demographie und den Bevölkerungswissenschaften.

Den Band leitet ein Einführungstext von Lischke und dem Herausgeber Michel ein. Darin sind die Entwicklungsperioden der Bevölkerungswissenschaften schematisch wiedergegeben. Unerwähnt bleibt die Tatsache, dass der Beitrag in wesentlichen Teilen die identische Fassung des bereits 2001 abgedruckten Artikels „Zur Entwicklung der Bevölkerungswissenschaft im deutschsprachigen Raum von den Anfängen bis 1945“ ist.1 Die beiden Texte unterscheiden sich allein durch die Zusammenfassungen; im Lexikon wird im Schlussteil die Geschichte der Bevölkerungswissenschaft nach 1945 fortgeführt. Die einzelnen Artikel des Lexikons sind wie folgt aufgebaut, dem Personennamen, der Berufsbezeichnung, den Lebens- und Sterbedaten folgt ein kurzer lebensgeschichtlicher Abriss, in dem die wissenschaftliche Ausbildung und Laufbahn sowie die wichtigsten wissenschaftlichen Leistungen skizziert sind. Darin enthaltene Verweise setzen einzelne Persönlichkeiten zueinander in soziale oder intellektuelle Kontexte. Daneben werden die für die Bevölkerungswissenschaft für relevant erachteten wissenschaftlichen Publikationen der Personen angeführt, ergänzende Quellenangaben verweisen auf weiterführende Literatur.

Für die Beurteilung des Lexikons sollte gleichwohl die Frage gestellt werden, wie Lischkes Beitrag für die Professionalisierung und Formierung der Demographie als wissenschaftliche Disziplin einzuschätzen ist? Dafür bedarf es einer Bemerkung zu Lischkes Verständnis von Demographie und Bevölkerungswissenschaft sowie zur Auswahl der Wissenschaftler und zum innovativen Charakter des Lexikons.

In einer vorläufigen Ausgabe des „Instituts für angewandte Demographie“ (IFAD-Edition. Historische Reihe IV) wurde das Lexikon bereits im Jahr 2000 veröffentlicht, jedoch offenbar ohne einen größeren Bekanntheitsgrad erlangt zu haben. Angesichts der Publikation bei einem renommierten Verleger dürfen Lischke und Michel auf ein größeres fachliches Interesse hoffen. Unerfreulich ist, dass – abgesehen von Rainer Karlschs Studie zur Geschichte der Demographie in der DDR im Einführungstext – neuere Ergebnisse und Erkenntnisse zur Geschichte der Bevölkerungswissenschaften oder zu prominenten Persönlichkeiten nicht in die vorliegende Veröffentlichung eingearbeitet wurden.2 Verglichen mit dem Internationalen „Dictionary of Demography. Biographies“3 der Materialsammlung zur Geschichte der Bevölkerungswissenschaft von vom Brocke 4 oder der „Auf dem Gebiete der Bevölkerungsstatistik und Bevölkerungswissenschaft tätigen Österreicher“5 – die alle als Quellengrundlage hier Eingang fanden – liegt der Vorteil des vorliegenden „Biographischen Lexikons“ darin, einen Nachweis über die historisch kontinuierliche Beschäftigung mit Bevölkerungsproblemen und Fortschritten auf dem Gebiet der Bevölkerungswissenschaften von Personen aus der deutschen Sprachgemeinschaft erbracht zu haben.

Lischke verfolgt mit dem Lexikon das Ziel „die disziplinäre Vielfalt sowie die unterschiedlichen methodischen und theoretischen Konzepte der Bevölkerungswissenschaft in ihrem jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext sichtbar“ (S. 1) zu machen, um damit die Disziplingeschichte der Bevölkerungswissenschaft anhand von Biographien darzustellen. Die Biographien des Lexikons erstrecken sich über den Zeitraum seit der Reformationszeit bis hin zu Personen, die vor 1915 geboren und deren wissenschaftliche Biographie deshalb als abgeschlossen betrachtet werden kann (ebd.). Die bevölkerungswissenschaftlichen Ansichten der Reformationszeit seien am prägnantesten in Martin Luthers (1483-1546) Predigten über die Bedeutung der Ehe zum Ausdruck gekommen (S. 6, 192f.). In dieser Perspektive markieren nicht Johann Peter Süßmilch oder Caspar Neumann den Ausgangspunkt für das demographische Denken in Deutschland, sondern diejenigen, die sich zu bevölkerungspolitischen Problemen äußerten, die „das bevölkerungswissenschaftliche Denken und die praktische Umsetzung diesbezüglicher Erkenntnisse in der Gesellschaft maßgeblich geprägt haben“ (S. 1). Entgegen den politischen Arithmetikern Süßmilch und Neumann, die Bevölkerungsverhältnisse numerisch erfassten und interpretierten und deswegen häufig als die Repräsentanten der Vorgeschichte der Demographie identifiziert werden, wird damit der historische Ausgangspunkt früher gelegt. Einerseits entsteht dadurch der Eindruck, dass die Demographie als eine traditionsreiche Disziplin auf ältere Wurzeln verweisen kann. Andererseits kann so der im Untertitel des Buches versprochene Beitrag „zur Geschichte der Demographie“ nicht ganz eingelöst werden, weil Luther – wie auch unter anderem Sebastian Frank (S. 103f.) oder der Kameralist Johann G. Leib (S. 179f.) – keine numerischen Interpretationen der Bevölkerungsverhältnisse leistete, sondern die Werte der Ehe hervorhob. Ein wenig unglücklich scheint deshalb die Wahl des Untertitels des „Lexikons“ zu sein. Denn bei den im „Lexikon“ vertretenen Personen handelt es sich nicht um Demographen im strengen Sinn, sondern um Vertreter verschiedener der Bevölkerungswissenschaft nahe stehender oder angrenzender Disziplinen, die seinerzeit auch keine demographische Ausbildung erhielten; darunter finden sich z.B. Biologen, Genetiker, Soziologen, Philosophen. Diesbezüglich stellt sich die Frage, welches Verständnis von Demographie hier vorliegt. Handelt es sich um eine Einzeldisziplin oder um eine Menge von Subdisziplinen? Wünschenswert wäre eine Erörterung der Begriffswahl Demographie im Titel allein deswegen gewesen, weil sowohl im Vorwort des Herausgebers wie auch im Einführungstext nur die Rede von Bevölkerungslehre und Bevölkerungswissenschaft ist.

Das Problem, das dem vorliegenden „Biographischen Lexikon“ und gewissermaßen jedem Nachschlagewerk anhaftet, ist, dass es zwangsläufig unvollständig bleibt. Sicherlich bietet sich bei den Bevölkerungswissenschaften und der ihr angrenzenden Disziplinen ein breites Spektrum von Persönlichkeiten, über die kaum die elementarsten biographischen Informationen vorhanden sind. Doch zeigt sich damit doch nur, dass auch hier noch tiefer gegraben werden könnte. Nichtsdestoweniger ist das vorliegende „Biographische Lexikon“ ein umfassendes Sammelwerk, das einen guten Überblick über die Persönlichkeiten bietet, die untrennbarer Bestandteil der Entwicklung der Bevölkerungswissenschaften im deutschsprachigen Raum sind.

Anmerkungen:
1 Lischke, Ralph-Jürgen; Michel, Harald, Zur Entwicklung der Bevölkerungswissenschaft im deutschsprachigen Raum von den Anfängen bis 1945, in: Statistische Monatsschrift, 3 (2001), S. 110-120.
2 Erwähnt seien lediglich: Mackensen, Rainer; Reulecke, Jürgen (Hrsg.), Das Konstrukt „Bevölkerung“ vor, im und nach dem „Dritten Reich“, Wiesbaden 2005. Schmidt, Daniel, Statistik und Staatlichkeit, Wiesbaden 2005. Ferdinand, Ursula, Zu Leben und Werk des Ökonomen Julius Wolf (1862-1937), in: Mackensen, Konstrukt, S. 150-188.
3 Petersen, William; Petersen, Renee (Hrsg.), Dictionary of Demography. Biographies, 2 Bände, London 1985.
4 vom Brocke, Bernhard, Bevölkerungswissenschaft – quo vadis? Möglichkeiten und Probleme einer Geschichte der Bevölkerungswissenschaft in Deutschland, Opladen 1998.
5 Lebmann, Rosa; Helczmanovski, Heimold, Auf dem Gebiete der Bevölkerungswissenschaft tätige Österreicher. Eine Biographie und Bibliographie, Wien 1986.

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